DR. ALBRECHT KRETZSCHMAR: Wir beginnen um 19 Uhr.
Lilli : Wer sollte oder wann sollte man (ich) eine Darmspiegelung/-untersuchung durchführen lassen? Wenn man Symptome bemerkt, kann es doch schon zu spät sein?
DR. ALBRECHT KRETZSCHMAR: Die Darmspiegelungsuntersuchung hat sich inzwischen auch als Vorsorgemaßnahme bzw. Früherkennungsmaßnahme bewährt für Patienten, die keinerlei Beschwerden haben. Die gesetzlichen Krankenkassen übernehmen die Kosten für diese Untersuchung ab dem 55. Lebensjahr. Ob es angemessen ist, schon früher eine erste Koloskopie durchzuführen, wenn keinerlei Beschwerden vorliegen, ist noch umstritten. Wenn keine familiäre Belastung vorliegt (Darmkrebsbetroffene mit denen man erstgradig verwandt ist), so ist sicherlich eine erste Untersuchung vor dem 50. Lebensjahr nicht notwendig. Wenn es zu Beschwerden kommt, wie Stuhlunregelmäßigkeiten, Blut im Stuhl oder ähnlichem, sollte unabhängig vom Alter das Gespräch mit einem Spezialisten gesucht werden, um zu entscheiden, ob eine Darmspiegelung durchgeführt werden sollte.
Gäthje : Meine Frau bekommt Folfox (Mischung aus 4 Medikamenten), damit ihr nicht übel wird, läuft das langsam ein. An alles ist gedacht. Nur höre ich nichts von Vorbeugung gegen Metastasen, oder ist das in diesen QUOT1CocktailQUOT2 mit eingebaut? Speziell Knochenmetastasen sollen total übel sein. Wir haben damit noch keine Erfahrung und ich nutze die Möglichkeit dieser Sprechstunde, würden gern dazu was erfahren. Vielen Dank für eine Antwort.
DR. ALBRECHT KRETZSCHMAR: Aus Ihrer Frage leite ich ab, dass Ihre Frau das Folfox-Schema als adjuvante Chemotherapie bekommt. Dies bedeutet, dass man dem Auftreten von Metastasen oder einem sonstigen Rückfall vorbeugen möchte. Das Auftreten von Knochenmetastasen ist insgesamt bei Darmkrebs sehr selten, so dass in diese Richtung sich bisher keine vorbeugenden Medikamente etablieren konnten. Bei anderen Krebserkrankungen, bei denen Knochenmetastasen häufiger sind, werden inzwischen Medikamente eingesetzt, die speziell auf den Knochen wirken und hier Metastasen vorbeugen können oder aber das Fortschreiten derselben verlangsamen. Diese Medikamente heißen entweder Bisphosphonate oder aber monoklonaler Antikörper gegen RANKL. Bei Darmkrebs werden sie, wie oben angesprochen, nur sehr selten eingesetzt und nur, wenn bereits Knochenmetastasen nachgewiesen sind.
Pinky : Ich hatte Angst vor einer Darmspiegelung. Da wurde mir eine andere Art der Untersuchung vorgeschlagen mit einer Foto-Kapsel. Das habe ich auch gemacht. Aber es kommen mir immer mehr Zweifel, ob das eine zuverlässige Methode ist oder nur moderner Schnickschnack mit erfolgreicher PR. Angeblich ist alles in Ordnung bei mir. Wie filmt denn die Kamera jeden Winkel im Darm? Die rollt da ja nur durch, denn der Darm ist leer, weil ich alles abgeführt hatte. Soll ich noch eine QUOT1richtigeQUOT2 Darmspiegelung machen?
DR. ALBRECHT KRETZSCHMAR: Tatsächlich ist nur die komplette Darmspiegelung mit einem Endoskop, welches über den After eingeführt wird, eine Maßnahme, die sich als Früherkennungsmethode bewährt hat. Als etwas schlechtere Alternative kann man eine so genannte virtuelle Koloskopie durchführen. Dabei erfolgt die gleiche sehr intensive Abführmaßnahme, so dass der Darm vollständig gereinigt ist. Anschließend wird der Patient mit Computertomographie untersucht (Strahlenbelastung). Wenn diese Untersuchung gut gelungen ist, so kann man hiermit auch Vorstufen von Krebs (Adenome, Polypen) oder Krebs in frühem Stadium entdecken. Allerdings entfällt die Möglichkeit, Proben von diesen zu entnehmen oder sie gar mit der Zange oder Elektroschlinge gleich zu entfernen. Das dritte Verfahren ist die von Ihnen beschriebene geschluckte Videokapsel. Bei perfekter Darmreinigung kann die Kapsel auch Adenome, Polypen oder frühe Karzinome entdecken. Die Nachteile, dass man keine Probe nehmen kann, sind jedoch ebenfalls gegeben. Die meisten Patienten, die eins der drei Verfahren über sich ergehen ließen, berichten, dass das Abführen, sprich die gründliche Darmreinigung, die bei allen Verfahren nötig ist, mit Abstand das belastenste der Untersuchung ist. Insofern klares Plädoyer für die Koloskopie.
Mewwe : Ein Freund von mir ist Arzt und promoviert gerade. Er hat mich darauf hingewiesen, dass es eine recht neue Substanz gibt für die Behandlung von fortgeschrittenem Darmkrebs an dem meine Mutter leidet. Die Substanz heißt Panitumumab und wird offenbar mit anderen Substanzen gemischt. Ich habe das gegenüber dem behandelnden Onkologen erwähnt und der meinte das ginge nicht, weil meine Mutter in den vergangen 5 Jahren zwei Mal eine Lungenentzündung gehabt hat. Das wäre ein Ausschlusskriterium. Da war ich ganz überrascht. Ist das wirklich so und warum?
DR. ALBRECHT KRETZSCHMAR: Panitumumab ist ein Antikörper gerichtet gegen den so genannten EGF-Rezeptor, der auf den meisten Krebszellen vorkommt und eine Rolle beim Fortschreiten der Erkrankung spielt. Tatsächlich wird dieses Medikament mit Chemotherapieschemata kombiniert. Bei den geeigneten Patienten führt es zu einer verbesserten Wirkung der gesamten Mischung gegenüber alleiniger Chemotherapie (häufigere Metastasenverkleinerung, längere Wirksamkeit der Kombination). Dieses Medikament trägt jedoch auch zu eigenen unerwünschten Arzneimittelwirkungen bei. Ein oder zwei Lungenentzündungen in der Vorgeschichte des Patienten wären in meinen Augen keine Begründung, auf das Medikament zu verzichten. Sie sollten hier noch einmal das Gespräch mit dem behandelnden Onkologen suchen. Möglicherweise liegt auch ein Missverständnis vor.
Brille : Als Folge von Darmkrebs bekam mein Bruder Metastasen in der Leber und man hat die Chemotherapie abgebrochen. Das hat uns schockiert. Warum? Es muss doch auch für diese erweiterte Erkrankung noch Therapiemöglichkeiten geben. In welche Richtung gehen die?
DR. ALBRECHT KRETZSCHMAR: Insgesamt bekommen leider weiterhin etwa ein Drittel der Patienten, die zunächst erfolgreich an Darmkrebs operiert wurden, einen Rückfall. Dieser manifestiert sich meistens in Form von Lebermetastasen. Die Behandlungsmöglichkeiten für Patienten mit metastasiertem Darmkrebs (insbesondere mit Lebermetastasen) haben sich in den letzten 10 bis 15 Jahren deutlich verbessert. Wir können diese Patienten inzwischen mit 2,3 manchmal 4 verschiedenen Therapielinien hintereinander behandeln. Bei Patienten mit ausschließlich Lebermetastasen kann man manchmal auch eine Kombination aus Chemotherapie und dann späterer Operation der Lebermetastasen anstreben. Damit gelingt es immer wieder, auch Patienten mit metastasierter Erkrankung längerfristig zu helfen. Auch Verfahren, die Chemotherapie direkt in die Leberarterie oder kleinster radioaktiv strahlender Kügelchen in die Leberarterie leiten, können im Einzelfall sinnvoll sein. Was Ihren Bruder betrifft, müsste man klären, ob die Therapie als aussichtslos abgebrochen wurde oder aber möglicherweise auch Ihr Bruder selbst keine weitere Behandlung wollte, nachdem man ihm eröffnete, dass keine Chance auf Heilung besteht.
Josch : Was für neue Therapien gibt es für Darmkrebs Phase II, die meiner Schwester Mut machen könnte? Gibt es Studien?
DR. ALBRECHT KRETZSCHMAR: Für Patienten mit metastasierter Erkrankung stehen aktuell drei verschiedene Zytostatika (Chemotherapiemedikamente) zur Verfügung. Daneben haben wir zwei Antikörper, die Einfluss auf die Blutgefäßneubildung nehmen und zwei Antikörper, die gegen den EGF-Rezeptor gerichtet sind. Neue Chemotherapiemedikamente gab es in den Jahren nicht und es befinden sich auch keine in der Phase unmittelbar vor Zulassung. Die vier oben genannten Antikörper sind aufgrund von Phase III-Studien (vergleichende Studien) zugelassen. Der Letzte (Aflibercept oder Zaltrap) wurde jetzt gerade zugelassen. Ein weiteres Medikament in Tablettenform, welches auch eine Rolle bei der Blutgefäßneubildung spielt (Regorafenib) hat sich als Ultima Ratio, nachdem alle anderen Medikamente schon eingesetzt wurden, bewährt und steht unmittelbar vor der Zulassung. Natürlich gibt es eine Reihe weiterer Medikamente, die aktuell in Studien geprüft werden. Keines von diesen ist jedoch bereits jetzt so vielversprechend, dass ich davon ausgehen würde, dass es bald für alle verfügbar ist. Ob Ihre Schwester selbst an einer klinischen Studie teilnehmen kann, muss sie mit ihrem behandelnden Onkologen klären.
Kolodzicki : Mein Vater hat schon mehrere Darmkrebsoperationen hinter sich und erstaunlicherweise bisher nur eine Metastase in der Leber, die entfernt wurde. Bisher nichts in den Knochen. Jetzt hat sich im Enddarmbereich wieder etwas gebildet, was aber offenbar schwer zu entfernen ist. Deshalb wurde eine Kryotherapie vorgeschlagen. Wie effektiv ist die und wie groß ist die Gefahr, dass der Krebs wiederkommt oder sich ausbreitet?
DR. ALBRECHT KRETZSCHMAR: Aus Ihrer Frage kann ich sehr schwer ableiten, was bei Ihrem Vater tatsächlich vorliegt. In meinen Augen ist eine Kryotherapie für einen Rückfall im Enddarmbereich kein etabliertes Verfahren. Insofern kann ich hierzu keine verwertbaren Auskünfte geben. Sie sollten die behandelnden Ärzte nach Strahlentherapie oder kombinierter Strahlen-Chemo-Therapie fragen. Dies sind geeignete Verfahren für einen Rückfall an Ort und Stelle, wenn eine Operation nicht mehr in Frage kommt.
Schluckwerder : Vectibix soll besser sein als die übliche 5- FU/ FS-Medikation. Wie wird so was festgestellt, wie verlässlich ist das?
DR. ALBRECHT KRETZSCHMAR: Panitumumab (Handelsname Vectibix) ist einer der beiden Antikörper gegen den EGF-Rezeptor. Man kann nicht sagen, dass es besser ist als 5-FU und Folinsäure. Vectibix kombiniert mit 5-FU, Folinsäure und Oxaliplatin als Erstlinien-Therapie war deutlich wirksamer als die Chemotherapie alleine. Für Patienten, bei denen die erste Sorte Chemotherapie (häufig Folfox mit oder ohne den Antikörper Bevacizumab) versagt hat, wurde eine zweite Sorte Chemotherapie (Folfiri) mit und ohne Panitumumab getestet. Hierbei zeigte sich, dass bei Einsatz von Panitumumab (Vectibix) viel häufiger ein Ansprechen auf die Therapie erreicht wurde. Interessanterweise führt die Kombination aus Vectibix und Irinotecan auch bei Patienten, die unter gerade laufender irinotecan-haltiger Therapie eine Verschlechterung ihrer Situation erfahren, häufig zum Erfolg. Insgesamt also ein sehr potentes Medikament, welches jedoch nur bei Patienten eingesetzt werden kann, bei denen man am Tumormaterial (eine Probe, die üblicherweise beim Pathologen gelagert wird) einen bestimmten Marker nachgewiesen hat: K-RAS Wildtyp. Ergibt der Test am Tumormaterial K-RAS:mutiert, so darf man weder Panitumumab noch Cetuximab einsetzen. Da inzwischen drei sehr große vergleichende Studien mit Panitumumab in verschiedenen Therapielinien eine Wirksamkeit gezeigt haben, kann man die Erkenntnisse als sehr verlässlich ansehen.
Tadic : Was sind die einzelnen Schritte der Nachsorge nach einer Darmkrebsoperation mit Lebermetastasen-op und Chemo? Wie lange dauert es, bis man wieder auf die Beine kommt und arbeitsfähig ist mit akzeptablem output? Ich bin 48, sonst gut trainiert, mit drei kleinen Kindern und muss meinen job behalten.
DR. ALBRECHT KRETZSCHMAR: Nach Abschluss der Behandlung mit Operation und adjuvanter Chemotherapie werden üblicherweise Kontrolluntersuchungen alle drei Monate durchgeführt. Dies kann ambulant erfolgen. Die unerwünschten Arzneimittelwirkungen der Chemotherapie, wie insbesondere Abgeschlagenheit / Schlappheit sowie Kribbeln in den Fingern oder Zehen oder Taubheit, können durchaus auch noch etwas länger anhalten. Im Allgemeinen ist körperliche Belastung (leichtes sportliches Training, mit den Kindern spielen) günstig und führt dazu, dass man schneller wieder voll einsatzfähig ist.
Bkopa : bei mir wurde darmkrebs am unteren ende des dickdarms festgestellt.gibt es alternativen zum kuenstlichen darmausgang?
DR. ALBRECHT KRETZSCHMAR: Die Entscheidung, ob bei Krebs im Mastdarm, nahe dem Schließmuskel, ein dauerhafter künstlicher Darmausgang angelegt wird, machen sich die Chirurgen und die Patienten üblicherweise nicht leicht. Je nach Lage des Tumors und Stadium (durch Ultraschall oder Kernspin nachgewiesene Lymphknotenmetastasen) kommt häufig eine kombinierte Strahlen-Chemo-Therapie vor Operation zum Einsatz. Die meisten chirurgischen Kliniken halten einen vorübergehenden künstlichen Darmausgang für ein angemessenes Verfahren. Für Sie kann letztlich nur ein Arzt, der Ihren Befund sehr genau kennt, eine gute Beratung bieten. Zu berücksichtigen ist, dass wenn aufgrund eines massiven Patientenwunsches auf den künstlichen Darmausgang verzichtet wird, obwohl das eigentlich gar nicht geht, man mit einem höheren Rückfallrisiko rechnen muss und unter Umständen der Schließmuskel nicht mehr zuverlässig funktioniert.
MODERATOR: Der Experte macht eine kurze Pause. Wir setzen die Beantwortung Ihrer Fragen in wenigen Minuten fort.
Juckel : Womit kann man länger und mit besserer Lebensqualität leben mit Metastasen (ausgehend von Darmkrebs) in der Leber, oder Metastasen in den Knochen?
DR. ALBRECHT KRETZSCHMAR: Eine schwierige Frage. Wie bereits aufgeführt, sind Knochenmetastasen bei Darmkrebs erfreulicherweise relativ selten. Knochenmetastasen werden nur selten lebensbedrohlich. Allerdings führen sie häufig zu sehr ausgeprägten Symptomen: Insbesondere Schmerzen, aber auch Bewegungseinschränkungen, manchmal Knochenbrüche, manchmal Entgleisungen der Blutsalze (Hypercalcämie). Lebermetastasen hingegen machen sehr häufig gar keine Beschwerden, führen aber - wenn man sie nicht mehr kontrollieren kann - zu einer lebensbedrohlichen Situation und somit zum Tode. Wenn man konkret antworten wollte, so müsste man sagen: Länger leben mit Knochenmetastasen, bessere Lebensqualität mit Lebermetastasen. Zur Beeinflussung der Symptome von Knochenmetastasen gibt es jedoch, wie auch bereits weiter oben ausgeführt, Medikamente über die Chemotherapie hinausgehend: Schmerzmittel, Bisphosphonate und relativ neu und sehr potent Denosumab (Xgeva).
Breckling : Im Darm sollen ja wesentliche Teile des Immunsystems angesiedelt sein. Meinem Vater ist ein langes Stück Darm entfernt worden. Reduziert sich damit sein Immunsystem? Eine Chemotherapie folgt in Kürze. Die beeinträchtigt doch auch noch mal die Funktion des Restdarmes und das Immunsystem. Wenn das alles so heruntergefahren ist, ist der Körper dann weniger in der Lage sich gegen Metastasen zu wehren? Kann man über die Stimulierung des Immunsystems etwas erreichen, um Metastasen vorzubeugen?
DR. ALBRECHT KRETZSCHMAR: Die Entfernung von großen Teilen des Darmes führt zu keiner relevanten Beeinträchtigung des Immunsystems. Auch die Chemotherapie beeinträchtigt nicht das Immunsystem als solches, sondern führt gelegentlich zu einem vorübergehenden Abfall der weißen Blutkörperchen (speziell der Granoluzyten), was dann - im Falle einer Infektion - schwerwiegende Folgen haben kann. Eine Unterdrückung des Immunsystems kann tatsächlich das Auftreten von Metastasen fördern. Erfreulicherweise ist dies jedoch - wie ausgeführt - weder durch Entfernung von Teilen des Darmes noch durch die Chemotherapie der Fall. Umgekehrt ist eine Stimulation des Immunsystems, die im Übrigen sehr schwierig ist, bei Darmkrebspatienten nicht nötig. Eine Stimulation des Immunsystems zur Behandlung einer metastasierten Krebserkrankung hat sich bisher nur bei manchen Fällen von Melanomen (schwarzer Hautkrebs) bewährt. Bei anderen Krebserkrankungen laufen teilweise Studien, so auch bei Darmkrebs. Bisher gibt es jedoch keine derartig positiven Ergebnisse, dass wir es im Alltag einsetzen.
Straib : Ich weiß, dass es inzwischen normal ist eine zweite Meinung einzuholen, aber ich tue mich damit trotzdem schwer. Bedeutet es nicht eine Diagnose in Frage zu stellen? Ich befürchte, dass sich durch diesen Wunsch das Vertrauensverhältnis zu meinem Arzt verschlechtert und kann mich nicht zu einer zweiten Meinung entschließen. Wie sieht der Dr. Kretzschmar das aus ärztlicher Sicht? Ist das eine Provokation für den Arzt?
DR. ALBRECHT KRETZSCHMAR: Eine sehr gute Frage. Wenn man ein sehr gutes Vertrauensverhältnis zu seinem Arzt hat, ist meines Erachtens eine zweite Meinung nicht erforderlich. Wenn die vorgeschlagenen Maßnahmen oder vielleicht auch die eröffnete Prognose für den Patienten so bedeutsam sind, dass er eine zweite Meinung wünscht, so sollte er dies offen mit seinem behandelnden Arzt besprechen. Ich persönlich habe keine Probleme damit, wenn meine Patienten eine zweite Meinung wünschen und stelle ihnen dann auch die erforderlichen Unterlagen zusammen. Häufig führt allein diese Bereitschaft und eine vielleicht nochmal ausführlichere Beratung dazu, dass der Patient schließlich doch auf die zweite Meinung verzichtet. Wenn der Behandler durch den Wunsch nach zweiter Meinung provoziert wird und sich quer stellt, ist dies meines Erachtens kein gutes Zeichen.
Armand SH : Welche Vorsorgemaßnahmen empfehlen sie mir (Mutter mit Darmkrebs mit 62, ich bin jetzt 53 Jahre alt), habe schon mit 40 Jahren mit Darmspiegelungen angefangen. In welchem zeitlichen Abstand soll ich das weitermachen? Vielen Dank für eine Antwort.
DR. ALBRECHT KRETZSCHMAR: Wenn Ihre Mutter (mit 62 an Darmkrebs erkrankt) die einzige erstgradige Verwandte mit Darmkrebs ist, so sind Sie eigentlich gar kein Risikokandidat. Hat man sich - aus welchem Grund auch immer - zu einer Vorsorgekoloskopie entschlossen und bei dieser wurden weder Polypen noch ein Krebs im Frühstadium entdeckt, so ist eine Kontrolle nach fünf bis zehn Jahren ausreichend. Für Patienten mit einer tatsächlichen familiären Belastung - was für Sie nicht zutrifft - kann, auch bei unauffälligem Darm, ein kürzeres Intervall, teilweise sogar ein Jahr, angemessen sein. Dies ist insgesamt schwierig pauschal zu beantworten. Sie sollten sich vom Gastroentereologen, der die Untersuchungen macht, beraten lassen.
Cakir : Wovon ist abhängig wie lange die Chemotherapie dauert? Warum kann der behandelnde Arzt nicht vorher sagen, wie viel Einheiten Chemo mein Bruder haben muss? Konnte uns nicht gesagt werden. Das ist ein ganz schlechter Zustand. Wird da mit einbezogen, ob das Risiko für Metastasen größer oder kleiner ist? Es waren keine Lymphknoten befallen.
DR. ALBRECHT KRETZSCHMAR: Aus Ihrer Frage schließe ich, dass Ihr Bruder eine so genannte adjuvante Chemotherapie bekommt. D. h. die Operation ist erfolgt, es wurden keine Metastasen gefunden und durch die Chemotherapie soll das Risiko für einen Rückfall verkleinert werden oder positiv gesprochen, die Chance für eine Heilung vergrößert werden. Bei diesen adjuvanten Chemotherapien bezieht man sich auf Protokolle, die in Studien untersucht wurden. Die Standardchemotherapie dauert 24 Wochen. Wenn bestimmte unerwünschte Wirkungen auftreten, kann es auch einmal angemessen sein, die adjuvante Therapie nach weniger als 24 Wochen zu beenden. Ein adjuvantes Behandlungsregime, welches auch gute Ergebnisse erbrachte, jedoch nur selten bei uns angewandt wird, hatte nur eine Dauer von 12 Wochen. In jedem Falle sollte der Behandler sich ausreichend Zeit nehmen, über die Dauer der Therapie mit dem Patienten zu reden. Möglicherweise sind auch hier Missverständnisse aufgetreten.
Freitag : Wenn der Darmkrebs herausoperiert wurde, 30cm Darm entfernt wurden, keine Lymphknotenbeteiligung bestand ist dann alles klar, oder muss man zur vorab Abwehr noch was machen?
DR. ALBRECHT KRETZSCHMAR: Nachdem Darmkrebs operiert wurde, kann man ein so genanntes Stadium angeben (Ausmaß des Wachstums in der Darmwand durch den Tumor selbst T1, T2, T3, T4 und ob die entfernten Lymphknoten von Krebs befallen waren oder nicht: N0, N1, N2). Hieraus ergibt sich ein bestimmtes Risiko, dass es im Verlauf der nächsten Jahre zu einem Rückfall der Erkrankung kommt. Übersteigt dieses Risiko etwa 20 bis 30 %, so ist im Allgemeinen ein Nutzen durch eine adjuvante Chemotherapie gegeben. Wenn man sich für diese adjuvante Chemotherapie entschließt und sie durchführt, so wird das Risiko für den Rückfall verkleinert. Ob bei Ihnen die Bedingungen für oder gegen eine adjuvante Chemotherapie sprechen, kann ich nicht beurteilen. In jedem Falle ist es angemessen, dass eine ausführliche und intensive Beratung über den Nutzen einer adjuvanten Chemotherapie erfolgen sollte. Inzwischen gibt es sogar Computerprogramme, die uns helfen, quantitative Angaben zu machen.
Nisnewitch : Man hat mir eine Behandlung vorgeschlagen, die sich FOLFIR+Vectibix nennt. Ich habe mir dann angehört, was für Folgen das während der Therapie hat auf Haut, Durchfall, Müdigkeit und nicht zuletzt auf die Psyche, dass ich ganz unsicher bin, ob das mein Weg ist. Könnte der Experte einmal eine Einschätzung geben, was so viel besser an dieser Therapie ist, als an anderen, damit ich das alles besser akzeptieren kann.
DR. ALBRECHT KRETZSCHMAR: Wenn man Ihnen Folfiri und Vectibix vorgeschlagen hat, so könnte ich mir vorstellen, dass Sie bereits eine Chemotherapie mit Folfox erhalten haben. Dann handelt es sich um eine Zweit-Linien-Therapie. Da Folfiri + Vectibix als Zweit-Linien-Therapie deutlich wirksamer ist als die Chemotherapie alleine, kann es durchaus angemessen sein, diese Kombination zu wählen, auch wenn sie mehr unerwünschte Wirkungen hat. Es kommt ein bisschen darauf an, wie hoch der Druck ist, dass Ihre Erkrankung jetzt wieder kontrolliert wird. Liegen z. B. einige aber noch kleine Metastasen und insbesondere keine Beschwerden vor, so kann man sich durchaus zunächst für die mildere Therapie ohne den Antikörper Vectibix entschließen und beim Versagen der Therapie Irinotecan + Vectibix als Dritt-Therapie einsetzen. Liegen jedoch ausgeprägte Metastasen vor oder tumorbedingte Beschwerden, so würde auch ich die starke Kombinationstherapie dringend empfehlen. Die unerwünschten Wirkungen, insbesondere der akneartige Hautausschlag, lassen sich im übrigen relativ gut durch eine vorbeugende Therapie abfangen.
Hajo : Mein Vater ist sehr mitgenommen. Nach 3 Wochen nach der Infusion von Vectibix ist er komplett pickelig, so dass er das Haus nicht verlassen kann. Er ist auch körperlich gar nicht dazu in der Lage. Wie lange hält das an, denn eigentlich sollte er in Kürze die nächste Infusion bekommen. Das sehe ich aber gar nicht bei dem Erschöpfungszustand.
DR. ALBRECHT KRETZSCHMAR: Diese Frage spricht die gerade aufgeführte spezifische Wirkung von Vectibix an der Haut an. Abgeschlagenheit und der akneartige Hautausschlag sind tatsächlich unerwünschte Wirkungen, die subjektiv sehr belastend sind, wenngleich sie zu keinen relevanten medizinischen Komplikationen führen. Um die Wirkung an der Haut zu beeinflussen, setzen wir häufig Salben und auch Antibiotika in Tablettenform ein. Die Abgeschlagenheit lässt sich durch körperliche Aktivität positiv beeinflussen. In jedem Falle sollte Ihr Vater mit dem Behandler die weitere Strategie besprechen. Manchmal ist auch eine Dosisreduktion angemessen, um die Lebensqualität nicht weiter zu sehr zu beeinträchtigen.
Kawaschinski : Kann ich Darmkrebs durch mein eigenes Verhalten sicher verhindern?
DR. ALBRECHT KRETZSCHMAR: Die Antwort ist leider nein. Es gibt Lebensgewohnheiten, die das Risiko für Darmkrebs klar vergrößern, wie unzureichende Bewegung, reichlicher Konsum von Fleisch und Übergewicht. Leider müssten wir uns jedoch vom sagen wir 10. bis 60. Lebensjahr entsprechend vernünftig verhalten, um tatsächlich einen relevanten Einfluss auf das Darmkrebsrisiko zu nehmen. Einen 100 prozentigen Schutz vor Darmkrebs gibt es in keinem Falle. Da zurückhaltender Fleischkonsum, körperliche Bewegung und normales Gewicht jedoch insgesamt sehr gesundheitsfördernd sind, kann ich Sie nur jedem empfehlen.
Richers : Meine Frau hatte einen sogenannten Port chirurgisch implantiert bekommen für die Chemotherapie. Wie lange kann der liegen bleiben? Sie hat sich daran gewöhnt und möchte den Zugang eigentlich behalten, falls sie ihn noch mal braucht. Geht das?
DR. ALBRECHT KRETZSCHMAR: Ja, das geht. Wenn der Port erst einmal liegt und nicht weiter stört, so ist das Risiko, was von ihm ausgeht als sehr gering einzustufen. Ich habe viele Patienten, die seit Jahren mit ihrem Port herumlaufen, ohne dass sie ihn aktuell benötigen und ebenso wie Ihre Frau ihn ungern wieder hergeben möchten. Wie häufig, muss man Nutzen und Risiken abwägen.
H.Stolze : Mein Vater (60 J.) bekommt seit Januar eine Chemotherapie. Er hat einen nicht mehr operablen Tumor am Blinddarm (4. Stadium). Da er die Therapie sehr schlecht verträgt und seine Lebensqualität stark eingeschränkt ist, stellt sich für ihn die Frage, welche Alternative es noch hierzu gibt. Die Chemotherapie scheint nicht so richtig anzuschlagen. Allerdings ist das offenbar aufgrund der Lage des Tumors schwer festzustellen. Gibt es das?
DR. ALBRECHT KRETZSCHMAR: Möglicherweise leidet Ihr Vater an einem Apendixkarzinom mit Befall des Bauchfells (Peritonealkarzinose). Tatsächlich kommt es hier nur selten zu Metastasen, die man gut messen kann. Unter Umständen ist auch eine Therapiepause mit Beobachtung, wie sich die Krankheit entwickelt, angemessen. Möglicherweise ist jedoch auch ein sehr radikales Vorgehen mit Operation des Tumors, weitgehender Entfernung der Bauchfellmetastasen, gefolgt von erhitzter Chemotherapie ins Bauchfell gegeben (HIPEC), eine Behandlungsoption. Da das Krankheitsbild selten ist, sollte sich Ihr Vater möglicherweise eine zweite Meinung bei Chirurgen holen, die HIPEC anbieten.
DR. ALBRECHT KRETZSCHMAR: Ich danke allen Teilnehmern dieser Sprechstunde für die vielen interessanten Fragen und die rege Teilnahme. Ich wünsche Ihnen allen einen schönen Abend!
Ende der Sprechstunde.